Display-Wasserkirche Zürich, 2023
Babel ist in Zürich oder Wie wir durch Kunst lesen lernen
Von Bassma El Adisey
«Die Bibliothek ist eine Sphäre, deren eigentlicher Mittelpunkt jedes beliebige Sechseck und deren Umfang unzugänglich ist.»
– Jorge Luis Borges in Die Bibliothek von Babel (1941)
Als Menschen fühlen wir uns manchmal ziemlich unbedeutend. Wie viel wurde gesagt, ge-zeichnet, gemalt oder geschrieben vor unserer Zeit? Wie unbedeutend ist auch diese Einsicht? ELDORADO – der Goldene – viele kennen den Ausdruck, wissen um die Geschichte des mythischen Ortes der Reichtümer. Als sagenhaftes Goldland im nördlichen Südamerika bekannt geworden, veranlasste die Legende von Eldorado die spanischen Eroberer und Entdecker seit dem 17. Jahrhundert zur Überfahrt in den damals unbekannten neuen Kontinent. Die Erzählung zu Eldorado und all ihre Abwandlungen befeuerte ein von Gier getriebenes Goldfieber, dessen Leidtragende nicht nur die Ureinwohnenden der Gebiete waren, sondern auch die Natur. Längst wurde die Suche nach dem Gold von Eldorado weltumspannend zu einem Synonym für die Plünderung von Bodenschätzen und Ressourcen, deren Fortführung und Auswirkungen bis heute in weiten Teilen der Welt spürbar sind. Eldorado ist nicht mehr nur der entlegene Sehn-suchtsort im Urwald Südamerikas.
Stattdessen finden wir Eldorado irgendwo zwischen Belgrad und Athen, wo ein Poster an der Bushaltestelle oder ein Pappschild auf dem Gemüsemarkt zur Diskussion mit Passant*innen anregt – Terra Incognita (2015). Eldorado ist auch auf einem Containerschiff, das regelmässig in Manila ablegt, aber in der Heimat des Schatzes keinen Anlegehafen findet – Going Public 1 (2014). Es ist explizit dort, wo wir uns zusammen mit Hühnern in einem Zürcher Vorort vor-stellen, endlich richtig fliegen zu können – Supereldorado (2010). Und manchmal ist es sogar in einer Höhle, wie sie Kinder aus Tüchern im Wohnzimmer bauen, um sich in andere Welten und Zeiten zu träumen – Eldorado – Dilemma (2021).
Dem Goldrausch verfallen, nimmt uns die Künstlerin Vreni Spieser (*1963 Zug) in ihrem Werk immer wieder an genau diese Orte mit. Ihr Gold schürft die in Zürich lebende Künstlerin überall auf der Welt, im Fluss des Lebens. Seit Jahren kreist ihr Werk um den Begriff Eldorado. Dabei ist es nicht der Mythos, der sie umtreibt. Unablässig zeigt die Künstlerin stattdessen auf, dass Eldorado überall dort ist, wo Menschen Grenzen und Meere überqueren, um dem kapitalisti-schen Ruf nach einem besseren Leben in Wohlstand zu folgen. Eldorado wird so zu einer Hülle, zu einem Gefäss, in dem sich Träume und Hoffnungen sammeln und wo auch Platz ist für das Scheitern, für all jene Erzählungen von Um- und Abwegen, die vielerorts gleich klingen und von der Verzweiflung, von verpassten Chancen und leeren Versprechen berichten.
Eine dieser Geschichten findet am Rand von Spiesers Ausstellung in der Zürcher Wasserkirche statt. Auf einem Videoscreen durchschreiten wir in mehreren zusammengeschnittenen Video-sequenzen die Irrgärten leerer Ladenpassagen in Buenos Aires (ARG). Die beinah indifferente Kameraführung lässt keine verworrenen Winkel erkunden. Spieser hält den Filmapparat schlicht vor sich beim Gehen. Das Tempo, mit dem die Künstlerin durch die sogenannten galerías läuft, ist nicht gemächlich. Es ist kein Schlendern, ist weder hastiges Abklappern noch forschendes Inspizieren. Wir fühlen uns eher in einen Zustand des Beobachtens versetzt. Diese Gleichgültigkeit, mit der sich Spieser diesen Räumen annimmt, öffnet den Blick für die un-scheinbaren Gemeinsamkeiten der ehemaligen Einkaufsplätze. Manchmal bemerken wir nicht einmal, wie die Künstlerin den Ort wechselt. Auf diese Weise schlängelt sie sich durch ein meist menschenleeres Labyrinth. Zusammen verlieren wir uns in der Gleichförmigkeit dieser längst vergangenen Warenwelt. Wir sehen Röhren, die wie Tunnel ins Innere riesiger Gebäudekom-plexe führen. Links und rechts Glasscheiben, dahinter leergeräumte Regale, hier und da noch eine Verkaufstheke. Wir betreten mit Spieser schummrige Gänge, wo Abfolgen aus leeren Ver-kaufsräumen vom Niedergang der südamerikanischen Hauptstadt als Handelsmetropole er-zählen.
Nur die aufwendig gestalteten Böden oder die gelegentlich aufblitzenden Innenhöfe mit Pflanzenkübeln und Sitzgelegenheiten erinnern an andere Zeiten. Zeiten, in denen hier das Leben stattfand, wo Leute ein und aus gingen und sich auf Bänken vom Bummeln ausruhten oder auch einfach vor der Mittagshitze in die schattigen Patios oder klimatisierten Einkaufsläden flüchteten.
Spieser kommentiert diese Bilder nicht. Sie sammelt sie, lässt sie ineinander übergehen und schafft auf diese Weise eine Typologie zeitgenössischer Unorte. Im Sinne Michel Foucaults (1926–1984) könnten die galerías auch als «Heterotypien» gelesen werden – einst Abbild florierenden Wirtschaftsaufschwungs waren die Einkaufspassagen wahrgewordene Utopien. In ihnen bestätigte sich tagein tagaus der Traum des gesicherten Einkommens, sowohl für Ver-kaufende wie auch Konsumierende. Heute dümpeln diese Plätze vor sich hin; irgendwo zwi-schen dem steten Gedanken, es liesse sich hier mit ein wenig Geld doch viel aufbauen, und der Einsicht, dass in Zeiten des Onlinehandels nicht mehr durch Läden geschlendert wird. Die einst schicken Ladenpassagen könnten im Jahr 2023 höchstens noch als Lagerräume dienen.
Display macht so eine seltsame Lücke sichtbar. Wo die einstige Kirche in den Ausstellungsraum übergeht, erschliesst Spieser mit ihren neusten Arbeiten ein eigensinniges Archiv und bezieht sich so auf die weltliche Geschichte des Hauses mit den bunten Scheiben von Augusto Giaco-metti; von 1634 bis 1917 diente der Bau an der Münsterbrücke nämlich als Zürcher Bürger-bibliothek. Dass Spieser in Bücherorten arbeiten kann, bewies sie bereits im Jahr 2022, als sie eine grossflächige und permanente Bodenarbeit in den neuen Räumlichkeiten des Verlags Ripio in Buenos Aires realisierte. Die gleichen Typografien verwendet sie nun auch am Zürcher Limmatquai. Von dort nach hier lässt sie uns damit auch diese Transferroute entlangwandern und wir erkennen vielleicht, dass Kunst auf seltsame Weise Sprachbarrieren überwindet.
Wie bei Ripio konfrontiert Spieser ihr Zürcher Publikum immer wieder mit den gleichen sechs Buchstaben. Zwischen lesen und verstehen, stellen uns die Schriftzeichen vor ein unlösbares Rätsel. Die Künstlerin hat sie dem Wort „Eldorado“ entnommen. In Display spielt sie die un-zähligen Anordnungen der Lettern nun erneut durch. Sie überträgt sie auf Module, Leucht-kästen, Möbel oder Europaletten und wechselt zwischen grafischem Formmuster und Raum-ensemble. „E“, „L“, „D“, „O“, „R“ und „A“ – und alles danach ist die Wiederholung dessen, was schon vorher da war. Die sperrigen Objekte in der Wasserkirche entziehen sich auf sonderbare Weise einer Lesbarkeit. Unwillkürlich rufen sie deshalb eine der bekanntesten Geschichten von Jorge Luis Borges in Erinnerung. In Die Bibliothek von Babel lesen wir von einer unendlich grossen Bibliothek in der unendlich viele Bücher versammelt sind, deren Inhalte unendlich un-ergründbar sind. Zu grossen Teilen beschreibt Borges in seiner Novelle den Aufbau der baby-lonischen Bibliothek – fast als wäre die Ordnung der Unendlichkeit wichtiger, als die Unend-lichkeit selbst – als würde dieses System uns mehr über unser Dasein erzählen, als jeder Roman oder jede Chronik. Und so fällt der Blick plötzlich auf das grüne Metallgestell in Spiesers Aus-stellung und wir sind plötzlich wieder im Urwald Südamerikas. Während der Name des wasser-reichsten Flusses auf der Erde in den Ohren nachklingt, denken wir an andere Ströme, die in der Wirtschaftshauptstadt der Schweiz mit diesem Logistikgestell für Transportpaletten verbunden sind und unsere scheinbar rätselhaft verworrene Umwelt plötzlich als Kapitel in einem mass-losen Buch lesbar werden lässt.
So viele Worte wurden schon geschrieben, so viele Waren produziert und transportiert. Schlussendlich ist die Wahrscheinlichkeit, neuen Sinn zu erschaffen, grösser, wenn wir einfach wahllos irgendwelche Buchstaben aneinanderreihen, statt neue Geschichten zu schreiben oder Dinge zu produzieren. Display ist deswegen aber längst kein pessimistischer Abgesang auf die kreative Neuschöpfung im 21. Jahrhundert. Spieser erinnert uns lediglich daran, dass Kunst nicht das Erschaffen neuen Sinns, sondern die Suche danach ist. Wo der Titel dann auch eine mit Computer- und Handybildschirmen gespickte Ausstellung erwarten ließe, beweist die Künstlerin, dass sie kein World Wide Web braucht, um uns auf eine imaginäre und zeitlose Reise um den Globus mitzunehmen. Dazu reichen sechs Buchstaben und ein Gespür, Erzählungen in Objekten und Orten zu ungekannten Lesarten zu verhelfen.
Fernanda Huamån Pino: Field Recordings, Buenos Aires 2023
Fotos: Thomas Burla